Was ist dieses Zine [selbst herausgegebenes Magazin, Anm. d. Übers.]?

Das ist ein konzeptuelles Buch mit einem kurzen Text (Gedicht oder Roman?). Der Text passt auf eine einzelne Seite, aber das Buch ist trotzdem dick: 96 Seiten.
Ein Buch, das auf der Schreibmaschine eines erschossenen Mannes getippt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hat diese noch nie jemand benutzt.

Das Buch ist ein Liebesbrief an eine Frau, die dieser Mann nie gekannt und nie geliebt hat.

Es stellte sich heraus, dass diese Schreibmaschine einen seltsamen Defekt hat: Die Taste „o“ durchlöchert die Seite, selbst wenn das Blatt zwei- oder dreimal gefaltet ist. Das Problem ist nicht das Papier und auch nicht die Kraft, mit der die Taste gedrückt wird, es geht vielmehr um etwas Anderes, um eine Art „Hyperreflexion“. Dieser Defekt steht als Metapher für eine Schusswunde / ein Loch. Darin sah der Autor einen Weg, den Text auf die übrigen Seiten des Buches zu übertragen, auf denen er eigentlich nicht vorhanden ist: Da steht kein Text, aber durch die Löcher vom Buchstaben „o“ ist er doch da. Dadurch hat das Buch 6.700 durchgehende Löcher.

Als Epigraph für dieses Buch wurden lebensbejahende Worte eines Tyrannen gewählt: Die Worte „...Die Liebe besiegt den Tod“ stammen aus der Anmerkung, die Stalin auf die letzte Seite des Poems „Das Mädchen und der Tod“ von Gorki geschrieben hat. Diese Worte werden als Spott gesehen, aber genau darin besteht das Paradox: Worte verlieren weder ihre Kraft noch ihre Wahrhaftigkeit.
Im Jahr 2022 kuratierte ich in der Redaktion der Zeitschrift „Woprosy literatury“ eine Ausstellung, die dem Schriftsteller Juri Dombrowski, Autor der Dilogie „Der Hüter der Altertümer“ und „Die Fakultät der unnützer Dinge“, gewidmet war. Diese zwei erstaunlichen Bücher eines ehemaligen Gefangenen unter Stalin handeln vom Leben und der Angst in den 1930er Jahren.
Dalilah Portnova, die Nichte des Schriftstellers, übergab mir eine amerikanische Schreibmaschine, ein Artefakt dieser Zeit, und erzählte mir ihre Geschichte.

Die Schreibmaschine gehörte einem Familienfreund, der sie durch einen tragischen Zufall nur wenige Tage vor seiner Verhaftung erworben hatte. Nach seiner Erschießung erhielt die Familie Dombrowski diese Schreibmaschine. Möglicherweise wurde sie für den Schriftsteller aufbewahrt, der zu dieser Zeit im Lager an der Kolyma einsaß. Schließlich wurde die Schreibmaschine im Sommerhaus auf dem Dachboden vergessen, weder Dombrowski noch der ursprüngliche Besitzer haben sie jemals benutzt. Dieser Dachboden erwies sich als sicherer Lagerort, weshalb die Schreibmaschine nach mehr als achtzig Jahren immer noch wie neu war.

Eines Tages begann ich auf dieser Schreibmaschine einen Brief zu tippen. Der Liebesbrief wollte mir jedoch nicht gelingen. In der Hoffnung, die Inspiration würde durch die mechanische Wiederholung der Anrede an das Mädchen von selbst kommen, schrieb ich, wie die Hauptfigur aus dem Film „Shining“, wieder und wieder denselben Satz, bis ich fast das gesamte Blatt vollgetippt hatte.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieser immer wiederkehrende Anfang nicht nur die Anrede an meine Geliebte war. Das waren auch die ersten Worte, die auf dieser Schreibmaschine getippt worden waren.

Das alles hatte einen wichtigen Sinn, der alles sowohl im Inneren als auch in der Umgebung wesentlich veränderte, und selbst im tragischen Schicksal des Besitzers dieser Schreibmaschine wurde scheinbar etwas zurechtgerückt: Das Leben hat sich gerächt. Ohne ein neues leeres Blatt zu nehmen, schrieb ich nur einen Satz dazu. Und zwar, dass das die ersten Worte waren... Der Brief war zu Ende. Die Fußnote mit der Geschichte der Schreibmaschine erschien erst später während der Umdeutung des Textes, genau wie das Epigraph und alles andere.
Vorwort
Erstens.
Wir haben gar keine Zeit – keine Zeit für lange Geschichten.

Zweitens.
Unter diesen Umständen muss die Kunst wie ein Warnschuss wirken.
Bitte, jemand muss in die Luft schießen, um DAS aufzuhalten, um sie, um uns, um alle aufzuhalten!

Drittens.
In diesem Buch darf man schreiben und sogar malen, auf diese Weise findet es sinnvolle Verwendung.

Aber trotzdem ist es ein Buch, kein einfacher Notizblock. Sie werden das verstehen, wenn Sie es lesen und anschauen, was nicht länger als 5 Minuten dauern wird.

Und wenn nicht, ist das auch kein Problem. Reißen Sie einfach die einzige Seite mit Text heraus und schreiben/malen Sie auf den verbliebenen leeren Seiten. Dabei wird Ihnen auffallen, dass diese gar nicht leer sind. Spüren Sie, wie sich das Buch wehrt: Es gibt keinen Text, aber die Löcher sind geblieben.
Also ist der Text da, auch wenn er eigentlich nicht da ist?
Sehen Sie selbst.

Und wir hoffen, dass Sie dann sowohl den Inhalt, als auch die Geschichte selbst fühlen: Einschusslöcher, Nagelspuren, eine gelochte Fahrkarte aus einem früheren Leben in einem nicht existierenden Land, ein Band für das mechanische Klavier, Sterne, Elementarteilchen, mit denen die Physiker sich befassen...

Und die Lyriker sehen das wichtigste, das entscheidende und größte Wort, welches auf einen Buchstaben reduziert ist, an dessen Stelle nur die Löcher geblieben sind.
Die einzige Seite

...Die Liebe besiegt den Tod.

W. Stalin


Liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna, liebe Alina Sergeewna,
liebe Alina Sergeewna,

Mögen dies die ersten Worte sein, die auf der Schreibmaschine des erschossenen Menschen getippt wurden. Er selbst konnte leider nichts darauf tippen1.

1 Schreibmaschine „Royal“, hergestellt in New York, Seriennummer HM14–921942041. Die Tabellierung funktioniert nicht, die Tasten „й“, „ш“, „щ“, „т“, „ю“, „ц“, „6/:“, „7/.“, „8/№“ klemmen; die „о“-Taste durchlöchert das Papier wie eine Kugel (auch wenn man sie sehr sanft drückt). Bis zur heutigen Zeit wurde sie nie benutzt, lag viele Jahre im Dachboden eines Sommerhauses. Die Schreibmaschine gehörte Michail Zacharowitsch Abugow (1901–1941) – Lektor des WKP(b)-Bezirkskomitees Rostokino, WKP(b)-Mitglied. Abugow erwarb diese einige Tage vor seiner Verhaftung am 13. März 1941. Bald wurde er als Mitglied einer konterrevolutionären Terrororganisation zur Todesstrafe verurteilt. Erschossen am 08. Juli 1941 in Kommunarka. Rehabilitiert am 08. Dezember 1956. Ob er eine Geliebte, Eine Familie, eine Ehefrau, Kinder hatte, ist nicht so wichtig. Viel wichtiger ist Alina Sergeewna, liebe...
Erfahrung eines fehlenden Buchstaben oder Postreflexion über „Hyperreflexion“
1
Tatsächlich kam mir die Idee für ein Zine, als klar wurde, dass es im technologischen Zeitalter problematisch ist, ein leeres Buch mit Löchern zu veröffentlichen.

Die Druckereien lehnten den Auftrag ab, für sie war es zu riskant, reine Geldverschwendung. Niemand war sich sicher und konnte garantieren, dass alle Löcher übereinander liegen würden. Beim Versuch, mit einer Maschine Löcher in ein Musterbuch zu stanzen, begann sich die komplizierte Stanzschablone zu verformen: Die Löcher zur Mitte hin verschoben sich und wurden krumm. Zu viele Buchstaben fehlten und sie waren zu klein... Eine Druckerei hatte sich eigentlich bereit erklärt, aber dann teilte mir der Designer, der sich mit dem Layout des Buches beschäftigte, folgendes mit: „Die Pappe, also der Umschlag, lässt sich gut durchlöchern, aber das Heft, also die Seiten, nicht. Die Löcher sind ausgefranst. Und es ist nicht klar, warum das so ist. Vielleicht liegt es am Offsetpapier. Am Dienstag kommt der Technologe aus dem Urlaub zurück, und dann wird entschieden. Ohne ihn wollen sie am Buch nicht arbeiten.“

Während sich die Typographen die Köpfe zerbrachen, das Papier verdarben und nachdachten, beschloss ich, das Buch selbst herzustellen.

Zuerst musste ich altes A4-Papier für das perfekte Seitenformat finden. Dann musste ich den Text, der noch bearbeitet und ergänzt wurde, richtig anordnen. Anschließend musste ich herausfinden, wie ich es hinkriegen konnte, dass die Löcher auf allen Seiten mehr oder weniger zusammenfallen. So versuchte ich, nicht zwei Blätter, sondern drei oder vier zu lochen, indem ich sie gleichzeitig unter die Gummiwalze legte. Es fiel mir nicht leicht, mich an die Besonderheiten einer alten Schreibmaschine, die hängenden Tasten und den klemmenden Papierträgerwagen, zu gewöhnen.

Die Taste „o“ hatte einen Defekt: Sie durchlöcherte das Papier. Wer weiß, warum, aber das war der Hyperreflexion der Menschen ähnlich. Mit dieser Taste konnte ich auf einmal zwei Blätter, zweimal gefaltet, lochen, also acht Buchseiten. Das dauerte etwa eine Stunde. Um eine Umschlagseite herzustellen, brauchte ich 1,5 Stunden. Insgesamt arbeitete an diesem Buch zwei Monate. Nach einiger Zeit entfernte ich das Farbband, nachdem es anfing, sich in der Farbbandgabel zu verheddern. Der Grund war ebendiese Taste „o“. Sie machte das Farbband komplett unbrauchbar.

Auch wurde die Schreibmaschine natürlich schmutzig und verstaubte.

Weißes Konfetti aus dem Buchstaben, der nicht zustande kam schwarzer Staub und Farbbandfetzen sammelten sich in dem Bereich und verstopften die Abstände zwischen den Hebeln.
Ich beschloss, die Schreibmaschine zu reinigen und zu schmieren.

Jetzt klemmte der Mechanismus nicht mehr.
Plötzlich wiesen weitere Tasten denselben Defekt auf: „д“, „ь“, „в“, „ц“ und „б“ lochten jetzt auch das Papier. Ich machte mehr Fehler und verdarb die Seiten. Ich musste mich auch daran gewöhnen. Es wirkte wie darstellende Kunst, aber anstelle Klaviers hatte ich eine Schreibmaschine.

Ein Fehler, und ich musste neu anfangen. Dies war noch in der Phase, als ich die erste perfekte Textseite tippte. Manchmal konnte ich einen falschen Buchstaben, eine Zahl oder ein Zeichen mit einer Rasierklinge entfernen (Lifehack aus der Vergangenheit), aber für die Löcher war diese Methode ungeeignet.

Durch Computer und Drucker haben wir uns daran gewöhnt, dass wir Papier endlos verderben können, aber wenn wir mit der Maschine schreiben, haben wir keinen „zweiten Versuch“. Man tippt hier und jetzt ein einziges, einzigartiges Dokument, auch wenn es eigentlich immer wieder dasselbe Dokument ist. In der Regel sieht keine Seite der anderen ähnlich, jede hat ihre Eigenheiten, genauso wie Sie und ich.

Die zweite Phase der Arbeit an dem Buch war das Lochen.
Dann tippte ich nichts, ich durchlöcherte. Die Schreibmaschine auf diese Weise zu benutzen, war seltsam, aber gleichzeitig sehr effektiv. Allerdings wurde bald, nach Stunden und Tagen, mein Realitätsgefühl gestört. Die trügerische Leere jeder Seite füllte meinen Kopf und mein Inneres aus. Dann taten Augen und Kopf weh... Aber es machte mir Mut. Manchmal können dich die Leute um dich herum sogar in den verrücktesten Dingen unterstützen, obwohl einige es später bereuen.

Außerdem ist die Schreibmaschine alles andere als leise... Zwei Umschlagseiten, 96 Seiten, 134 Löcher auf jeder Seite, 6.700 durchgehende Löcher.

Am Ende der Arbeit fing die Schreibmaschine wieder an zu klemmen. Ich fürchtete, dass sie einer solchen Belastung – ein leeres Buch mit Löchern – nicht standhalten würde. Außerdem traten Schäden an der Gummiwalze auf, Risse und Ausbröckelungen, weshalb die Löcher auf den Seiten an diesen Stellen nicht so ordentlich aussahen. Deshalb liegen vielleicht einige Löcher nicht perfekt übereinander.
2
Nur ein Verrückter tippt heutzutage einen Roman, aber ein Gedicht oder einen Liebesbrief kann jeder tippen. Der Schönheit, dem Vergnügen, dem Spaß, dem Eindruck zuliebe oder aus Nostalgie.

Mit den Löchern ist es auch so: Jeder kann ein Buch mit Löchern machen, gerade aus ebendiesen Gründen: Schönheit, Eindruck, ästhetische Defekte, visuelle Effekte usw. Dann kann man durch die Löcher Lichtflecke tanzen lassen (dafür reicht es, das Buch unter eine Tischlampe zu halten oder die Taschenlampe im Handy einzuschalten) und Fotos für soziale Netzwerke machen.
Auch kann man ein leeres Buch mit den Aussagen eines bekannten Politikers oder über sexuelle Probleme herausgeben, welches wirklich leer ist: man findet darin nur den Namen des Autors sowie den Titel auf dem Umschlag und auf der Titelseite. So etwas gab es schon. Und alles als eine Form der Meinungsäußerung, ein Witz oder eine ätzende Parodie, denn dieses „nichts“ ist die Antwort auf alle Fragen.
Genauso kann man ein klassisches Gedicht erschaffen und dabei alle typischen Ausdrucksmittel verwenden: Rhythmus, Reim, Zeilenteilung, oder auch den Futuristen nachahmen.
Alles ist möglich. Und das alles heißt Technologie.
Aber außer der Technologie sollte noch eine Geschichte entstehen: Das Wort, die Löcher und die Leere.
Ich selbst habe mein Buch nicht absichtlich verfasst. Das war wirklich ein Liebesbrief. Alles andere wurde mit erst viel später klar. Am meisten hat mich gefreut, dass das Wort funktioniert, dass es in der Lage ist, hier und jetzt etwas gründlich zu berichtigen. Wenigstens die Bedeutung eines einzigen Gegenstandes: Die Schreibmaschine, die uns an den Tod erinnerte und von ihm erzählte, erzählt und singt nun über das Leben und die Liebe.

Das Wort muss funktionieren, nicht einfach nur schön aussehen. Die Löcher dürfen nicht einfach Löcher sein, als wären sie Fraßspuren von Silberfischchen. Die Leere darf nicht leer sein.
Das ist kein Witz und keine Fantasie.
Ich meine das ernst.

Obwohl dieses Buch „Das leere Buch“ heißt, liefert es nicht „nichts“, sondern „alles“ als Antwort.

Am Ende habe ich verstanden, dass der fehlende Buchstabe am wichtigsten ist, denn darin verbirgt sich das lebendige Wort, das scheinbar nicht im Buch geschrieben steht. Es gibt keinen Text, aber Löcher als Symbol für den Text, wie eine Gussform, und das bedeutet, dass es dort auch irgendwo das Wort gibt.
Außerdem habe ich verstanden, dass dieses Buch „unübersetzbar“ in andere Sprachen ist.

Das Lochmuster wird immer unterschiedlich sein. Vergleichen Sie „Дорогая Алина Сергеевна“ im russischen, „Liebe Alina Sergeewna“ im Deutschen und „Dear Alina Sergeevna“ im Englischen. Im Deutschen und im Englischen gibt es keine Löcher im Wort „liebe/dear“. Und in Chinesischen werden überhaupt keine Löcher sein. Aber ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll.

Ist das gut oder schlecht?
Ich habe eine Frage an die Übersetzer: Vielleicht finden Sie irgendeinen Ausweg? Ich, zum Beispiel, war nie auf Puschkins „Unübersetzbarkeit“ stolz, von der gerne gesprochen wird. Ich glaube, das ist eher Nachteil.
3
Sie liest nicht gern.
Ich las ihr vor.
Trotzdem mag sie es nicht.
Vielleicht gefällt ihr das leere Buch mit Löchern.
duardovich89@gmail.com
Made on
Tilda